Seit 2018 arbeitet Günter Distelrath (70) als oberster Repräsentant des Niedersächsischen Fußballverbandes. Der gebürtige Gelsenkirchener bekam den Fußball quasi in die Wiege gelegt. Parallel wirkt Distelrath zudem als Präsident des Norddeutschen Fußballverbandes. Dieser Verband mit seinen sechs Regionalligen war in Krisenzeiten deutlich leichter zu steuern. Am morgigen Donnerstag steht dort der außerordentliche Verbandstag an. Angestrebt wird beispielsweise die Zweiteilung der Regionalliga Nord, in der auch die SV Drochtersen/Assel spielt.

Abbruch? Aufsteiger? Keine Absteiger? Am Sonnabend stimmen die Delegierten des Niedersächsischen Fußballverbandes (NFV) über die nahe Zukunft des Fußballs ab. NFV-Präsident Günter Distelrath hat viel Kritik einstecken müssen. Ein Interview.

Von Daniel Berlin und Tim Scholz

TAGEBLATT: Herr Distelrath, das sind ja ganz turbulente Tage.

Günter Distelrath: Das kann man wohl sagen.

Wie schwer ist es, in solch wirren Zeiten NFV-Präsident zu sein, Repräsentant von immerhin 600 000 Fußballern in den niedersächsischen Vereinen?

Es macht sehr viel Spaß, sich für die Vereine und Mitglieder zu engagieren und beizutragen, dass die Monate der Ungewissheit bald enden und den Blick in puncto Sport und Fußball bald wieder nach vorne richten zu können. Unsere Vereine brauchen einfach Perspektive und Verlässlichkeit. Sie wollen wieder durchstarten. Wir haben eine Zeit erlebt, die allen Menschen in Deutschland viel abverlangt hat. Es gab viele Ängste, viel Unsicherheit. Die jüngsten Entwicklungen mit den Lockerungen stimmen mich durchaus positiv. Bei Sportveranstaltungen und beim Training sind wieder einige wenige Zuschauer zugelassen. Wir können Zuversicht schöpfen, auch wenn im Moment in Niedersachsen, Mannschaftssport, bis auf den Profibereich, noch nicht machbar ist.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Es gibt eine Studie aus den Niederlanden, die Hoffnung macht. Darin steht, dass die Kontaktzeiten im Fußball so gering sind, dass kaum die Gefahr einer Ansteckung besteht. So richtig es im Sinne des Gesundheitsschutzes war, zur Hochphase der Pandemie vorausschauend zu handeln und den Spiel- und Trainingsbetrieb zu untersagen, umso wichtiger ist es jetzt, den Blick auf Amateurfußball zu richten und im Hinblick auf die deutlich eingedämmten Risiken zeitnah wieder zum Wettkampfsport zu kommen.

Gab es einen Zeitpunkt, zu dem Sie die Brocken hinschmeißen wollten?

Diesen Gedanken habe ich noch nicht gehabt, weil es Spaß macht, in schwierigen Zeiten zur Lösung beizutragen. Ich war ja lange genug in meiner beruflichen Karriere, als Vorstand einer Sparkasse oder als Geschäftsführer eines Sparkassenverbandes gefordert gewesen. Diese Zeit hat mich gestählt und ich habe viel mitnehmen können für meine jetzige Verbandsarbeit im Fußball.

Gibt es in diesen Zeiten überhaupt gute Entscheidungen oder doch nur die Wahl zwischen Pest und Cholera?

Es gibt ja auch ein bisschen was zwischen Pest und Cholera. Das Entscheidende ist, dass man mit allen im Gespräch bleibt. Da meine ich die gewählten Entscheidungsträger, also das Präsidium, die Kreisvorsitzenden, aber natürlich auch die Gespräche mit der Basis. Man muss sehr sensibel aufnehmen, was die Basis, also die Vereinsvertreter sagen und dann schauen, wie man diese Aussagen in die Entscheidungen einfließen lässt. Aber man kann es nicht allen recht machen in einer solchen Situation. Das werden wir auch auf dem außerordentlichen Verbandstag sehen. Jeder Vorschlag, der dabei Mehrheiten findet, wird den einen oder anderen treffen, der nicht damit zufrieden ist.

Der Weg zum Verbandstag war steinig. Der NFV hat sich früh positioniert und für eine Fortsetzung der Saison plädiert. War das ein Fehler und haben Sie mit der Wucht an Kritik gerechnet?

In einer nie da gewesenen Ausnahmesituation mussten wir überlegen, wann Fußball unter Wettkampfbedingungen und mit Zuschauern wieder möglich sein würde. Uns war klar, dass diese Entscheidung weder der Verband noch die Vereine treffen können, sondern die Politik und die Gesundheitsbehörden. Wir haben dann nach einstimmiger Ansicht des NFV-Vorstands, dem neben dem Präsidium die Vorsitzenden unserer 33 Fußballkreise angehören, die Fortsetzungsvariante zum damaligen Zeitpunkt als die beste von vielen unangenehmen Lösungen angesehen. Ein wesentliches Moment dabei war die Option, die Saison tatsächlich noch sportlich abschließen zu können. Das war der tragende Gedanke. Dann haben alle 33 Kreisvorsitzenden mit ihren Vereinen einen Dialog geführt, um zu diesem Vorschlag ein Meinungsbild einzuholen und mussten feststellen, dass unsere Vereine sehr deutlich eine andere Meinung vertreten. Die Vereine haben sich für einen Abbruch ausgesprochen. Das war die Grundlage für unsere weiteren Entscheidungsschritte.

Aber wäre es nicht schlauer gewesen, das Meinungsbild gleich einzuholen? Bevor sich die Spitze des Verbandes positioniert?

Die Kreisvorsitzenden werden von ihren Vereinen in ihren Kreisen gewählt. Insofern glaube ich, dass die gewählten Vertreter das Ohr bei ihren Vereinen haben. Ich halte es schon für eine Verpflichtung der gewählten Vertreter, sich mit der Situation auseinanderzusetzen und einen Vorschlag zu machen. Wir haben ja alle Entscheidungsschritte auf dieser Grundlage bei vielen Videokonferenzen dann weiterentwickelt. Die Themen waren in keiner Satzung und keiner Ordnung geregelt. Wir mussten zu einem belastbaren und nicht angreifbaren Ergebnis kommen. Und nochmal zur Frage nach der Wucht der Kritik: Klar gibt es keine allumfassende Patentlösung, die alle Vereine jubeln lässt. Auch das Thema Abbruch wird nicht alle jubeln lassen. Insofern lag es auf der Hand, dass Kritik kommt, egal wie die Lösung aussieht. Aber eines ist klar, wir haben in Deutschland kaum eine Sache, die eine derart emotionale Kraft entwickelt wie der Fußball. Die Wucht, die uns ereilt hat, kommt aus der Ausnahmesituation heraus.

Kann man dann nicht von einem Kommunikationsproblem sprechen? Es gibt ja auch Vereine, die gesagt haben, sie wurden nicht gefragt, sie werden nicht gehört vom Verband in Barsinghausen?

Ich möchte das so nicht stehen lassen. Wir haben 2660 Vereine. Wir haben eine Struktur mit vier Bezirken und 33 Kreisen. Es ist natürlich auch die Frage, ob sich alle Vereine an den Kommunikationsmöglichkeiten beteiligt haben, die die Kreisvorsitzenden geboten haben. Jeder Kreisvorsitzende hat mit seinen Vereinen konferiert. Wir wissen, dass sich 1700 Vereine beteiligt haben. Insofern ist es teilweise auch eine Frage des aktiven Tuns. Aus den Vereinen erreichten uns auch direkt Vorschläge, die subsummiert in die Entscheidungsfindung eingeflossen sind. Aber noch etwas ist entscheidend. Immerhin haben sich 30 Prozent der Vereine für eine Fortsetzung der Saison ausgesprochen. Ich möchte an eines erinnern: Wir haben als Verband die Aufgabe, den Spielbetrieb ordnungsgemäß zu organisieren. Und wir müssen das Wohl aller Vereine im Blick haben. Und wenn 30 Prozent für eine Fortsetzung sind und 1000 Vereine sich an der Meinungsbildung nicht beteiligt haben, dann ist die Wahrscheinlichkeit nicht klein, dass von Vereinsseite ein Antrag auf Fortsetzung gestellt wird. Deshalb müssen wir diese Position als Variante aufführen. Das wurde uns dann so ausgelegt, dass wir durch die Hintertür wieder unsere Variante reinbringen wollen. Dass wir zwanghaft an der Fortsetzung festhalten wollten, war irrtümlich. Das war nicht der Fall.

Sie haben die Kreisvertreter in die Pflicht genommen. Aber hätte der Verband die Kreise mehr unterstützen müssen in der Frage, wie man mit den Vereinen kommuniziert, wie man sich ein Meinungsbild einholt?

Wir haben, als wir den Beschluss der Fortführung im Verbandsvorstand gefasst haben, uns sehr intensiv mit dem Pro und Contra auseinandergesetzt. Wir haben für die Kreisvertreter ein zweiseitiges Papier mit den wesentlichen Argumenten erstellt. Wir haben überlegt, ob wir hier zentral eine Informationsveranstaltung machen oder das den Kreisvorsitzenden überlassen. Ich fand es gut, dass die Kreisvorsitzenden das übernehmen wollten, weil sie an der Basis nahe dran sind.

Die 1000 Vereine, die sich nicht gemeldet haben – ist das die große Unbekannte am Sonnabend beim Verbandstag?

Nein. Wir arbeiten ja mit Delegierten und die Vereine haben nur eine begrenzte Anzahl an Stimmen auf dem außerordentlichen Verbandstag. Bei der Meinungsbildung vorher hatte jeder Verein die Möglichkeit, eine Stimme abzugeben.

Fußballer und Vereinsvertreter haben viel Kritik am NFV geübt, in den Sozialen Medien teilweise unter der Gürtellinie. Wie haben Sie die Kritiker erlebt?

Ich habe viele Mails bekommen und viele konstruktive Gespräche geführt. Die meisten Gespräche, und das ist positiv, waren nicht problemorientiert, sondern sachlich und lösungsorientiert, auch wenn sich die Lösungen nicht immer umsetzen lassen. Denn die Anmerkungen haben größtenteils die individuelle Vereinssicht widergespiegelt, vor allem hinsichtlich Auf- und Abstieg.

Und die kritischen Kommentare?

Ja, es gab auch Kritik. Aber das gehört dazu, gerade wenn man eine Situation erlebt, die noch niemand erlebt hat, in der Entscheidungen getroffen werden müssen, die nicht allen gerecht werden.

Ein Kritikpunkt der Vereine war, dass der NFV nicht gleich klar kommuniziert hat, dass der außerordentliche Verbandstag nötig ist, um über das Szenario Abbruch der Saison abzustimmen.

Die Schwierigkeit bestand für uns darin, den Vereinen so früh wie möglich Klarheit über den Saisonverlauf zu geben, andererseits aber auch nicht vorschnell zu reagieren. Denn wir mussten auch immer die aktuellen Entwicklungen und die politischen und behördlichen Anordnungen berücksichtigen. Und es bedarf auch einer bestimmten Dauer, um Beschlüsse vorzubereiten, dass sie einer nachträglichen Überprüfung standhalten. Denn eine Ausnahmesituation wie Corona ist in keiner Satzung geregelt.

Was meinen Sie konkret?

Der Verbandsvorstand hat die Kompetenz, die Saison zu unterbrechen – was wir auch getan haben –, und die Saison fortzusetzen, was wir eigentlich wollten. Dieses Vorgehen folgte dem Grundgedanken, dass sportliche Entscheidungen auf dem Spielfeld fallen sollen. Nachdem durch das eingeholte Meinungsbild aber klar war, dass die Mehrheit der Vereine den Abbruch will, haben wir den Verbandstag einberufen – mit einer gewissen Vorlauffrist, mit verkürzten Ladungs- und Antragsfristen. Im Nachhinein kann man sagen: Hätten wir von Anfang an über den Abbruch gesprochen, wäre man etwas schneller gewesen.

Wie viele Anträge für den Verbandstag sind beim NFV eingegangen?

Insgesamt zwölf Anträge der Vereine. Hinzu kommt der Antrag des Verbandsvorstandes, der den Saisonabbruch auf Basis der Quotientenregelung vorsieht, außerdem Regel- und Relegationsaufsteiger und keine Absteiger. Zu diesem Antrag gibt es eine Reihe von Änderungsanträgen, die auf unserer Homepage stehen. Da gilt es, beim Verbandstag zum Beispiel darüber abzustimmen, die Saison zu annullieren, was wahrscheinlich keine Mehrheit finden wird. Es gibt auch einen Antrag pro Abbruch, Quotientenregelung, Aufstieg und auch pro Abstieg. Und einen über die Fortführung der Saison. Ein heterogenes Bild.

Durch die Möglichkeit, dass auch Relegationsteilnehmer aufsteigen sollen, könnten Ligen überfrachtet werden. Was droht den Staffelleitern?

Das ist eine Herausforderung für die Spieltechniker, aber sie haben schon signalisiert, dass man Lösungen finden wird, wobei es zum Abschmelzen der Ligen einen Zeitraum von zwei Saisons geben wird, um wieder normale Staffelgrößen zu erreichen. In einer Saison wäre das nicht zu schaffen.

Was ziehen Sie für Lehren aus der Krise? Ist der Fußball in Niedersachsen besser auf eine nächste Welle vorbereitet?

Ich kann nur hoffen, dass sich eine solche Pandemie nicht wiederholt. Dennoch haben wir unsere Satzung angepasst, um besser gerüstet zu sein und Möglichkeiten für zukunftsfähige Modelle zu haben. Denn wir können nicht jedes Mal, wenn uns ähnliche Dinge ereilen, einen Verbandstag einberufen. Das würde die Entscheidungsfindung zu sehr verlängern und auch unter Kostenaspekten wäre das nicht vertretbar. Und wir haben während der Krise unser Angebot in der Fort- und Weiterbildung sehr stark digitalisiert.

Wann kann in Niedersachsen wieder so Fußball gespielt, wie man es kennt?

Ich baue auf die rückläufigen Infektionszahlen und darauf, dass die Kontakte auf dem Fußballplatz so gering sein werden, dass es kaum Ansteckungsgefahr gibt, sodass wir im Spätsommer oder Frühherbst auf Basis der politischen und behördlichen Verfügungslagen wieder Fußball spielen können. Und das hoffentlich auch mit Zuschauern. Geisterspiele sind im Amateurbereich nicht denkbar. Inzwischen sind wieder einige Zuschauer zugelassen, damit ist aber noch nicht verbunden, dass die Vereinsheime geöffnet, Getränke ausgeschenkt und eine Stadionwurst genossen werden kann.

Was werden Sie am Abend des 27. Juni machen?

Da werde ich mir die Bundesliga-Ergebnisse anschauen. Aus norddeutscher Sicht gibt es interessante Entscheidungen mit Wolfsburg und Werder Bremen.

Wir dachten, Sie sitzen nach dem Verbandstag mit einem Glas Rotwein auf die Terrasse und atmen einmal durch.

(lacht) Auch das womöglich. Wir können dann alle froh sein, dass wir eine klare Entscheidung haben und verlässlich planen können.

Quelle: Stader Tageblatt | Link zum Artikel